Von Katrin Thelen

 

„Das Problem von Silvester ist eindeutig der Neujahrstag“, konstatierte ich seufzend und versuchte dabei erfolglos, dieses lästige Pochen hinter meiner Stirn zu ignorieren.

Verkatert stand ich in der Küche und stöhnte angesichts der schmutzigen Gläser und der angebackenen Raclettepfännchen zwischen den in Aioli aufgeweichten Luftschlangenresten. „Na dann, frohes Auf-ein-Neues!“, prostete mein Kopf mir sarkastisch zu. Es explodierte lautstark ein verspäteter Böller, zumindest dachte ich das, als meine beiden Mädchen mit Tröte und Partyhut bewaffnet die Küche stürmten: „Mama, wir helfen dir!“

„Nicht alles ist anders als im letzten Jahr“, stellte ich mit schiefem Grinsen fest, denn Papas Schnarchen drang aus dem Schlafzimmer bis an mein Ohr.

Als es kurze Zeit später begann, verlockend nach frischem Kaffee zu duften, alle Tröten eine Pause in der Schublade machen durften, und jede der beiden mit einem noch trockenen Geschirrtuch ausgestattet, erwartungsvoll auf der langen Küchenanrichte saß, entspannte ich fast. Kurz dachte ich wirklich, es bahne sich so etwas wie eine wohltuende Alltagsroutine an. Das hätte ich mal lieber nicht gedacht.

„Mama, eigentlich ist es sehr gut, dass es den Zweiten Weltkrieg gegeben hat“, zündete da auch schon die Neunjährige den nächsten Böller.

„Bitte?“, krächzte ich in der Hoffnung, mich verhört zu haben.

Schon nickte sie bekräftigend zu ihren Worten: „Na, ist doch klar. Sonst hätten sich Pusteblume und Opa Willi nie kennengelernt, und uns alle würde es gar nicht geben.“

Ah, daher wehte der Wind! Ich nickte verstehend und verteilte zwei gespülte Raclettepfännchen an meine fleißigen Helferinnen.

Pusteblume war der liebevolle Spitzname für meine Großmutter, die im letzten Jahr mit sehr stolzen 99 Jahren verstorben war und Opa Willi war bis zu seinem Tod vor nunmehr 21 Jahren ihr Ehemann.

Ihr Spitzname entstand vor einigen Jahren durch ein zu oft vorgelesenes Kinderbuch und blieb bestehen. Erst viel später hatten wir verstanden, wie gut er eigentlich wirklich zu ihr passte, der Name dieser Blume, die am Ende ihres Lebens selbst immer weniger wird und dabei ihre Samen voller Zuversicht in die Welt vom Wind weitertragen lässt.

Wie wir noch heute, stammte schon Opa Willi aus Essen im damals noch gar nicht grünen Ruhrgebiet. Im Zweiten Weltkrieg war er als Marine-Unteroffizier in Bremen stationiert gewesen. Vor einem Lichtspielhaus mit seinen verlockenden Werbeplakaten für Filme aus der großen weiten Welt traf er meine Oma. Gemeinsam mit ihrer Mutter hatte sie mit einem U-Boot aus Danzig in Ostpreußen flüchten können. Dies hat ihr Leben gerettet und war doch gleichzeitig für immer ihr schlimmstes Erlebnis. Sie war gerade 20 Jahre jung, hatte ihre geliebte Heimat verlassen müssen und wusste nicht, was die Zukunft für sie bereit hielt. Die Filmwelt mit ihren verzaubernden Bildern erlaubte ihr einen Blick in eine unbeschwerte Welt, den sie sich nahm, um weiter Kraft schöpfen zu können für das eigene Leben, aus dem sie so jäh herausgerissen worden war und in dem es für Illusionen keinen Platz gab. Aber Träume mussten erlaubt bleiben auch in einem Krieg, der noch immer jeden Tag so viel Leid mit sich brachte. Das war ihre Einstellung zum Leben und der Anfang einer Ehe, die 56 Jahre hielt.

„Natürlich ist es gut, dass sie sich gefunden haben“, begann ich möglichst pädagogisch meinen Einwand, „aber weder ist deshalb der Zweite Weltkrieg was Gutes, noch hätte allein das Treffen der beiden gereicht, damit es euch jetzt geben kann. Dafür musste noch ganz viel mehr geschehen.“

Ich nahm der Dreijährigen das herumliegende Brotmesser ab, mit dem sie in die Arbeitsplatte Muster zu ritzen begonnen hatte.

„Ja, dann musste ja auch noch Omi geboren werden und dann Opa und dann du und Papa …“ philosophierte die Große sich in Rage. Zum Glück ließ sie sich zunächst stoppen durch den tropfenden Kartoffeltopf, die Kleine bekam den Deckel. Hausarbeit kann so beruhigend sein. In das friedliche Trockenreiben hinein fragte sie dann jedoch unbeirrt: „Wenn deine Oma ihr Zuhause verlassen musste und nie wieder dorthin zurück durfte, wie konnte sie dann überhaupt glücklich sein? Ich glaube, ich wäre für immer traurig.“

Behutsam begann ich, die Sektgläser in dem Becken mit warmem Spülwasser in hohen Schaumbergen einzuweichen.

„Zuerst war das bestimmt eine schwierige Zeit. Sie hat ihren Bruder an den Krieg verloren, doch ihre Eltern begannen, sich mit ihr in Bremen ein neues Leben aufzubauen, wenn auch ohne ihr Hab und Gut. In ihrer Heimat waren sie eine wohlhabende Familie gewesen, müsst ihr wissen. Sie besaßen einen Gutshof und hatten sogar eigene Pferde.

Mein Opa hat eure Pusteblume sehr geliebt und hat sie nach dem Ende des Krieges in das Haus seiner Familie nach Essen geholt. Wohnungen, Geschäfte, Schulen waren zerstört, und sie als junge Frau sollte sich um vieles kümmern, das keinen Spaß machte. Ihre unbeschwerte Jugend war zu Ende gegangen, ohne dass sie das hätte mitentscheiden dürfen.

Sie hat die Ostsee vermisst und diesen strengen Geruch nach Kohlenstaub, der früher über der ganzen Stadt Essen hing, gehasst, hat sie mir mal erzählt. Gemeinsam haben Opa und sie sich durch diese Jahre nach dem Krieg durchgekämpft. Meine Mama, eure Oma, wurde geboren, sie hatten zu essen, man konnte wieder Geld verdienen und damit schließlich auch das Haus schön renovieren.“ Ich drückte jeder eine tropfende Gabel in die Hand.

„Wenn die Feiertage kamen, verbrachte man mit Familien und Freunden viel Zeit miteinander, das war sehr wichtig. Wenn es Weihnachten keine Geschenkeberge gab, war niemand traurig.“ Selbst die Kleine schaute mich jetzt mit einer Mischung aus Skepsis und Mitleid an, und ich fuhr fort:

„Es kam etwas besonders Leckeres auf den Tisch und man glaubte daran, dass im neuen Jahr alles noch besser werden würde.

Als ich viele Jahre später geboren wurde, waren diese Sorgen und Ängste nicht mehr da. Da sind sie sehr gern in den Urlaub geflogen nach Spanien oder in die Berge. Oder sie haben mit mir Zeit in ihrem wundervollen Garten verbracht. Ich glaube, sie wollten mir gönnen, was sie nicht hatten haben können. Zu dieser Zeit war Pusteblume bestimmt sehr glücklich, so habe ich sie in Erinnerung. Sie hat gerne gesungen und gelacht und war die beste Kuchenbäckerin von allen Omas auf der Welt. Als die Zeiten noch nicht so gut waren, hat sie  immer daran geglaubt, dass alles besser werden wird und sich über jede Kleinigkeit gefreut. Das war ihr Geheimrezept, den Mut nie zu verlieren.“

„Mama, guck mal“, jauchzt die Kleine, denn sie hat es geschafft, aus dem Spülbecken eine Seifenblase auf ihre kleine Hand zu zaubern. Das Abtrocknen war vergessen, die neue Entdeckung beanspruchte für den Moment ihre Aufmerksamkeit voll und ganz.

In meinem Kopf war die Reise in die Erinnerungen noch nicht beendet. Gedankenverloren ergänzte ich noch: „Als Rentner haben sie dann ein gutes Leben genossen.“

„Vorher nicht?“ Entsetzt unterbrach mich meine Große, und ich sah ihr an, wie sie angestrengt zu rechnen versuchte, wie lange es wohl bis zu ihrer eigenen Rente dauern würde.

„Doch, vorher auch“, beruhigte ich sie, „mal mehr und mal weniger. Sie hat sich immer darauf gefreut, was noch kommen wird und sich immer gerne an alle schönen Dinge erinnert, die trotz aller Schattenseiten ihr Leben hell gemacht hatten. Sie hat mir viele tolle Geschichten aus ihrer Kindheit in Danzig erzählt. Wisst ihr …“, sinnierte ich, während ich gedankenverloren selbst eine Seifenblase auf einem Sektglasrand anstupste, „das Glück geht seinen Weg und es widerfährt dir oder nicht. Aber du musst dich auch bemühen, es finden zu wollen. Darin war Pusteblume eine Meisterin.“

Es wurde merkwürdig ruhig in der Küche. Die Große sortierte versunken das Besteck und vielleicht auch ihre Gedanken. Die Kleine baut einen Turm aus Dippschälchen.

„Deswegen wollte sie auch so alt werden“, weihte das neunjährige Neunmalklug uns schließlich in ihre Überlegungen ein. „War sie sehr traurig, als sie sterben musste?“

Krachend stürzte der Schälchenturm um. Scherben und Schluchzer folgten ohne Atempause. Der Handfeger und ein vergessenes Töpfchen in Schokosoße versunkener Weintrauben retteten uns vor dem Weltuntergang. Als beide genussvoll kauten, antwortete ich:

„Ihr letzter Satz, den sie im Krankenhaus sprach, lautete ˋIch habe so lange so schön gelebt´. Ohne Wenn und ohne Aber, auch wenn es die ja durchaus gegeben hat. Aber sie waren egal, sie vertraute auf das Gute, noch immer.“

Vielleicht wollte ich deshalb schon immer ein bisschen so sein wie meine Oma, wurde mir plötzlich klar. Mit nahezu unerschütterlichem Optimismus, ausreichend Gottvertrauen, einer Prise Humor und ganz viel Liebe. Ach ja, und Schokolade.

Als mein Mann eine Stunde später in der Küche einen Kaffee suchte, fand er uns drei, wie wir mit schokoverschmierten Fingern aus Bananenscheiben, Paprikastücken, Zwiebelringen, Quarkklecksen und Käsehappen lachende Gesichter auf die gespülten Pfännchen legten. Das neue Jahr hatte begonnen, und es fühlte sich sehr gut an.

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